Huston, Nancy: Ein winziger Makel
Kurzkritik – Was meinen Sie? – Ausführliche Besprechung – Infos
Roman
Aus dem Französischen von Uli Aumüller und Claudia Steinitz
Hardcover: Rowohlt, 2008
Taschenbuch: Rowohlt, 2009
(2006)
Inhalt:
Sol und Erra sind beide sechs Jahre alt, doch zwischen ihnen liegen Welten. Sol, verwöhnt, altklug und öfter im Internet unterwegs, als seine Mutter erfahren darf, lebt in jenem Land, in dem «Gott mit Bush befreundet ist». Erra, das glückliche Mädchen mit der Wunderstimme, das in Trümmern spielt, salutiert noch vor Adolf Hitler. Erra ist Sols Urgroßmutter. Über Generationen sind die beiden verbunden, und über Generationen wurde in der Familie ein düsteres Geheimnis weitergereicht. Was ist etwa mit dem hässlichen Muttermal an Sols Schläfe, das er sich wegoperieren lässt? Was mit dem grenzenlosen Hass seines Vaters? Es bleibt den Kindern überlassen, die Brüche und Verwerfungen in den Erzählungen ihrer Eltern zu deuten. (Pressetext)
Kurzkritik:
Ein eigenartiger Zauber geht aus von diesem Roman aus: Hier wird eine Familie nicht bloß über Generationen hinweg, sondern aus immer wieder anderer Perspektive dargestellt: … wenn man ihnen zuhört, kann man kaum glauben, dass sie von demselben Menschern sprechen.
Doch es sind dieselben Menschen, und es ist atemberaubend geschrieben, wie diese einmal von sich selbst und dann von den anderen erlebt werden, und es ist verblüffend, was für authentisch wirkende Verbindungen Huston zwischen ihnen geschaffen hat.
Werner gibt (5 von 5 Eselsohren)
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Muttermale
Erwachen.
Wie wenn man auf den Schalter drückt und der Raum sich mit Licht füllt.
Sobald ich nicht mehr schlafe, bin ich in Betrieb, in Alarmbereitschaft, unter Strom, Geist und Körper perfekt funktionsfähig, ich bin sechs Jahre alt und ein Genie, mein erster Gedanke am Morgen.
Noch weiß man da überhaupt nicht, worum es geht, und ich bin gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen von einem sechsjährigen Amerikaner, der sich für Gott hält und an Gewalt aufgeilt. Solomons Mutter ist “overprotective”, sein Vater scheint eher einfach gestrickt zu sein. Die Urgroßmutter, eine Sängerin mit dem Künstlernamen Erra, kommt auf Besuch und wirkt sehr lebenslustig und selbstbestimmt. Als sie hört, dass man plant, Solomons kongenitales (d.i. vererbtes) Muttermal im Gesicht operativ entfernen zu lassen, protestiert sie heftig und verweist auf ihr eigenes Muttermal in der Armbeuge, das sie “Cello” nennt.
Gespenstisches Familientreffen
Nach der Operation, die einige Komplikationen nach sich zieht, taucht Großmutter Sadie auf – mit der Idee, dass die gesamte Familie Erras Schwester in Deutschland besucht, obwohl sie mit ihrer Mutter seit 14 Jahren nicht mehr gesprochen hat und obwohl Erra nicht mehr in das Land zurückwollte, in dem sie aufgewachsen ist.
Wir erleben ein gespenstisches Familientreffen – und dann befinden wir uns im Jahr 1982, Solomons Vater Randall ist sechs, hat ein Muttermal an der Schulter und erzählt, wie die Familie für ein Jahr nach Israel zieht, weil seine Mutter dort Nachforschungen über das Nazi-Germanisierungsprogramm ausländischer Kinder anstellt.
Wieso Sadie im Rollstuhl sitzt
Wir erfahren, wieso Sadie im Rollstuhl sitzt – dann schildert sie uns als Sechsjährige, wie sie im Jahr 1962 unter der schwarzen Erziehung ihrer kanadischen Großeltern (und an ihrem Muttermal auf einer Pobacke) leidet, bis sie von ihrer Mutter, die gerade als Sängerin durchstartet und ein “unordentliches” Künstlerleben führt, nach New York geholt wird.
Schließlich berichtet Erra (oder Kristina oder Klarysa) als Kind von ihrem Leben als Sechsjährige im Nazideutschland 1944/45, die letzten losen Handlungsfäden laufen zusammen, und ich würde dieses Buch jetzt gerne nochmals – am besten von hinten nach vorne – lesen, um mir all die zuerst für nicht so wichtig gehaltenen Details ins Gedächtnis zu rufen.
Perspektiven
Ein eigenartiger Zauber geht aus von diesem Roman aus: Hier wird eine Familie nicht bloß über Generationen hinweg, sondern aus immer wieder anderer Perspektive dargestellt: “… wenn man ihnen zuhört, kann man kaum glauben, dass sie von demselben Menschern sprechen.“
Doch es sind dieselben Menschen, und es ist atemberaubend geschrieben, wie diese einmal von sich selbst und dann von den anderen erlebt werden, und es ist verblüffend, was für authentisch wirkende Verbindungen Huston zwischen ihnen geschaffen hat, zu denen jene vererbten Muttermale gehören, die wohl als Symbol für jenen Makel stehen, an dem die Urgroßmutter keinerlei Schuld trägt und der noch in die vierte Generationen nachwirkt.
Kinderstimmen
Für mich ist es der von Huston äußerst raffiniert komponierte vierstimmige Kanon, der dieses Werk außergewöhnlich macht, und natürlich die originelle Idee, diesen Kanon von Kinderstimmen “singen” zu lassen (selbst wenn diese Sechsjährigen in vielerlei Hinsicht frühreif sind). Es fällt mir seit Tagen schwer, ein anderes Buch anzufangen, auch wenn es noch so gut konstruiert und geschrieben sein mag. Ich zögere nicht, “Ein winziger Makel” ein Meisterwek zu nennen.
Von Werner Schuster
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Nancy Huston wurde 1953 in Calgary, Kanada, geboren und wuchs in den USA auf. Seit 1973 lebt sie in Paris. Sie ist mit dem Linguisten und Philosophen Tzvetan Todorov verheiratet und hat zwei Kinder. Huston hat zahlreiche Romane und Sachbücher veröffentlicht. Für ihr Werk wurde sie in Kanada u.a. mit dem «Governor General’s Award for Fiction» und in Frankreich mit dem «Prix Goncourt des Lycéens» ausgezeichnet.
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- von: Werner
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