Begley, Louis: Der Fall Dreyfus
Kurzkritik – Was meinen Sie? – Ausführliche Besprechung – Infos
Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum der Geschichte
Sachbuch Politik
Aus dem Englischen von Christa Krüger
Hardcover: Suhrkamp, 2009
Taschenbuch: Suhrkamp, 2011
(„Why The Dreyfus Affair Matters“, 2009)
Inhalt:
Im September 1894 entdeckte der französische Geheimdienst eine undichte Stelle im Generalstab der Armee: Militärische Geheimnisse wurden verraten, ausgerechnet an die Deutschen. Wenige Wochen später wurde Hauptmann Alfred Dreyfus trotz mangelnder Indizien verhaftet, des Landesverrats für schuldig befunden und zu lebenslanger Verbannung auf der Teufelsinsel verurteilt. Kaum jemand zweifelte an der Richtigkeit des Urteils: Dreyfus war Jude. Louis Begley schöpft aus seinem reichen Wissen als Anwalt und rekonstruiert den heute fast vergessenen Fall. (Pressetext)
Kurzkritik:
Es liegt natürlich auf der Hand, Dreyfus‘ undemokratischen Prozess und seine entsetzliche Haft auf der Teufelsinsel mit den undemokratischen Verfahren um mutmaßliche Terroristen im Gefangenenlager Guantánamo in Verbindung zu bringen; mir ist jedoch nicht ganz klar geworden, ob Begley das in seinem Buchprojekt von Anfang an geplant und währenddessen aus dem Blick verloren hat oder ob es sich nachträglich angeboten hat, einen vielleicht nicht mehr so allgemein gegenwärtigen historischen Vorfall mit etwas Aktuellem aufzufetten.
Ich tendiere zu zweiterer Unterstellung: Außer im Vorwort, am Ende des zweiten Kapitels und auf der letzten Seite kommt das Thema „Guantánamo“ in „Der Fall Dreyfus“ nicht vor.
Werner gibt (3 von 5 Eselsohren)
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Penible Rekonstruktionen
Ein gründlich recherchiertes und diese Recherchen auch gründlich darlegendes Buch hat Louis Begley mit „Der Fall Dreyfus“ veröffentlicht. Vor allem die erste Hälfte garantiert anregende bis empörende Lektüre: Schließlich wurde hier gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein französischer Offizier als Spion verurteilt, vor allem weil er Jude war. Und Begley legt auch ausführlich dar, wie emsig versucht wurde, das Fehlurteil aufrecht zu erhalten, und wie gefährlich und unbedankt es war, sich für Alfred Dreyfus einzusetzen.
Sehr wertvoll an diesem Buch ist auch der Anhang: Man hat ja schnell einmal über eine Personenbeschreibung hinweggelesen, die man dann nicht mehr auffindet. – Hier aber sind alle Akteure alphabetisch aufgelistet und nochmals beschrieben. Und für Eilige gibt es auch eine Kurzfassung der Dreyfus-Affäre.
Auf der Hand
Auf diese wird man wohl auch zurückgreifen, wenn man Begleys peniblen Rekonstruktionen, wer wann was wo warum gesagt und/oder getan hat, nicht mehr folgen will oder kann, wenn man also den Dreyfus vor lauter Offizieren nicht mehr sieht.
Und dann liegt es natürlich auf der Hand, Dreyfus‘ undemokratischen Prozess und seine entsetzliche Haft auf der Teufelsinsel mit den undemokratischen Verfahren um mutmaßliche Terroristen im Gefangenenlager Guantánamo in Verbindung zu bringen; mir ist jedoch nicht ganz klar geworden, ob Begley das in seinem Buchprojekt von Anfang an geplant und währenddessen aus dem Blick verloren hat oder ob es sich nachträglich angeboten hat, einen vielleicht nicht mehr so allgemein gegenwärtigen historischen Vorfall mit etwas Aktuellem aufzufetten.
J’accuse …!
Ich tendiere zu zweiterer Unterstellung: Außer im Vorwort, am Ende des zweiten Kapitels und auf der letzten Seite kommt das Thema „Guantánamo“ in „Der Fall Dreyfus“ nicht vor. Für eine überzeugende Darlegung hätte Begley, was hinter den Begriffen „Teufelsinsel“ und „Guantánamo“ steht, mehr und durchgängig verflechten müssen.
Mich hat ja tatsächlich die Dreyfus-Affäre interessiert (u.a. weil ich den Hintergrund von Émile Zolas „J’accuse …!“ in Erfahrung bringen wollte), so genau allerdings auch wieder nicht. Wie mag es da jenen ergehen, die „bloß“ vom Schlagwort Guantánamo angelockt worden sind?
Von Werner Schuster
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Andere Meinungen:
Sigrid Löffler sagte im kulturradio: Louis Begley lässt sich auf die feinsten Verästelungen der Dreyfus-Intrige ein und kann die komplexen Verwicklungen des Falles bewundernswert klar und übersichtlich darstellen, Zudem charakterisiert er sehr prägnant das beteiligte Personal, all die hohen Offiziere, Generäle und Minister sowie deren Handlanger, die das Komplott ausheckten, steuerten und deckten.
Günter Kaindlstorfer berichtet im Ö1-Kontext: Die auffälligste Parallele zwischen dem Dreyfus-Skandal und der Terror-Hysterie in den USA nach 9/11 ist allerdings die religiös-kulturelle. Dreyfus wäre nie verurteilt worden, wenn er katholisch und/oder adelig gewesen wäre, betont Begley in seinem Essay.
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Louis Begley, 1933 in Polen geboren, arbeitete bis 2004 als Anwalt in New York. Seine Werke wurden in 15 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Auf Deutsch erschienen zuletzt „Der Fall Dreyfus“ (2009), „Zwischen Fakten und Fiktionen“ (2008), „Ehrensachen“ (2007).
Über die Dreyfus-Affäre und über Louis Begley bei Wikipedia.
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