Nicht nur Pferden gibt man den Gnadenschuss
Ich ging an einer Hauseinfahrt vorbei, als ich plötzlich einen Pistolenlauf im Rücken spürte. Eine männliche Stimme flüsterte scharf: „Nicht umdrehen und zuhören, dann passiert dir nichts!“
Also hörte ich zu:
Als ich mit meiner Tochter meine Mutter besuchen fuhr, stieg mit uns ein junger Mann mit nasaler Stimme in die Straßenbahn ein, der so tat, als würde er telefonieren und in Wirklichkeit uns und den übrigen Fahrgästen 20 Minuten lang lauthals seine Erlebnisse seit dem Vorabend erzählte und Pläne für die kommende Nacht wälzte.
Damals reifte in mir endgültig der Entschluss, mir eine Uzi zu kaufen, um solche Idioten aus meiner Welt schaffen zu können.
Die nächste Gelegenheit ließ nicht lange auf sich warten. Diesmal unternahm ich mit mit der Familie einen winterlichen Ausflug zum Parapluiberg, wo wir uns gerade im Schutzhaus aufgewärmt hatten und auf die Terasse traten, um den Ausblick auf Wien zu genießen.
Du, ich bin jetzt beim Schutzhaus
Ich wollte gerade „Was für eine herrliche Ruhe“ sagen, als sich ein Mann vor uns hinstellte, sein Handy zückte und wahrscheinlich seiner Frau berichtete, wo er wäre und wann er heimkommen würde.
Er kam nicht mehr dazu, ihr mitzuteilen, wann sie den Kaffee aufsetzen sollte, denn ich hatte natürlich meine Uzi dabei und schoss ihn über den Haufen.
In diesem Augenblick hoffte ich inständig, dass mein Handy nicht zu klingeln beginnen würde.
Ich hatte erwartet, dass mir ein Mord nicht leicht fallen würde, stellte jedoch zu meiner Überraschung fest, dass ich unendlich erleichtert war. All der seit Jahren angestaute Hass gegen Störenfriede war von mir abgefallen.
Du bist so friedlich
Auch meine Frau, die meine Tat nicht guthieß, musste schließlich eingestehen, dass ich friedlich und freundlich war wie schon lange nicht mehr.
In der Straßenbahn kam es zu keinen weiteren Vorfällen. Außerdem wäre ich noch nicht kaltblütig genug gewesen, meine sog. „Aktion Gnadenschuss“ vor den Augen anderer durchzuführen.
Das änderte sich, als ich ein paar Wochen später in einer Arztpraxis saß und damit rechnete, lange warten zu müssen. Ich schloss die Augen und freute mich darauf, eine Weile vor mich hin dösen zu können. Niemand störte mich – die vielen Anwesenden blätterten in Illustrierten oder unterhielten sich leise –, bis diese Frau das Wartezimmer betrat und in ihrer Tasche kramte.
Natürlich holte sie ein Handy hervor und erzählte uns von ihrem Job (ohne zu erklären, welchen sie eigentlich ausübte) und ihren gesundheitlichen Beschwerden.
Erzählen Sie mir das nicht
Ich beobachtete die anderen, die sie mehr oder weniger heimlich voller Verachtung anstarrten. Dann nahm ich meinen Rucksack, zog die Uzi heraus und knallte sie ab.
Nach einer Schrecksekunde atmete ein Herr erleichtert durch, und es entbrannte eine leidenschaftliche Diskussion über rücksichtslose Menschen, an der sich bald auch die Ärztin beteiligte. Zu meiner Überraschung wurde ich als nächster drangenommen, mein Mord mit keinem Wort erwähnt, und schon befand ich mich wieder auf der Straße und ging heim.
Die Handy-Morde
Es dauerte nicht lange und mein Beispiel machte Schule. Nach etwa 20 von den Zeitungen so bezeichneten Handy-Morden kehrte allmählich Ruhe ein. Man konnte wieder Straßenbahn oder U-Bahn fahren, sich in ein Kaffeehaus setzen oder in Parks oder Wäldern spazieren gehen, ohne dass man belästigt wurde.
Ein gewisser Anton K. beanspruchte die Idee für sich (die bald auch in anderen Städten des Landes und schließlich weltweit aufgegriffen wurde), was mich nicht störte. Um Ruhm ist es mir nicht gegangen. Aber ich möchte, dass jemand weiß, dass ich es war.
„Und jetzt geh einfach weiter”, sagte er. Ich wurde nach vorne gestoßen, und nach ein paar Schritten hörte ich ein leises „Danke“.
Werner Schuster