Martel, Yann: Ein Hemd des 20. Jahrhunderts
Kurzkritik – Was meinen Sie? – Ausführliche Besprechung – Infos
- Hardcover
- Erschienen 2010 bei Fischer
- Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
- Originalausgabe: „Beatrice and Vergil“, 2010
Inhalt:
Henry T., ein ehemals erfolgreicher Schriftsteller, bekommt eines Tages einen Brief von einem Leser, der ihn sehr neugierig macht. Die Suche nach jenem führt Henry zur Tierpräparation „Okapi“ und ihrem Besitzer. Der zeigt ihm Szenen eines ungewöhnlichen Theaterstückes, das er gerade schreibt. Es handelt vom „Schrecken“. Doch was ist der „Schrecken“, was geschieht da, und wie können wir Erlebnisse benennen, die sich in ihrer Grausamkeit jeglicher Sprache entziehen? (Pressetext)
Kurzkritik:
Darf man so ein Buch über den Holocaust schreiben, fragten sich einige amerikanische Kritiker? Darf man über dieses Buch so schreiben wie Brigitte.de, frage ich mich?
Werner gibt (4 von 5 Eselsohren)
Und hier können Sie das Buch bestellen:
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Zwei Schiffbrüche zum Preis von einem Hemd
Darf man so ein Buch über den Holocaust schreiben, fragten sich einige amerikanische Kritiker? Darf man über dieses Buch so schreiben wie Brigitte.de, frage ich mich?
Die Story: Bestseller-Autor Henry T. will einen Roman über den Holocaust schreiben, scheitert aber an seinen Verlegern. Ein Tierpräparator schickt ihm ein Theater-Manuskript über „die Ausrottung der Tiere“ – eine Parabel über Barbarei und Holocaust.
Der Autor: Bestseller-Autor Yann Martel („Schiffbruch mit Tiger“), weitgereister Diplomatensohn aus Kanada mit Philosophie-Studium.
Da muss man durch: Lange Dialoge zwischen Eselin und Brüllaffe, die – Dante lässt grüßen – Beatrice und Vergil heißen. Außerdem erfährt man alles über Taxidermie (Tierpräparation) und den Schrei von Brüllaffen.
Das hat man davon: Den Schrei von Brüllaffen im Ohr – und eine Wahnsinns-Sprache, die zum Weiterlesen reizt. Auch wenn die Handlung so gekonnt ins Leere läuft wie bei „Warten auf Godot“.
Preis-Leistungs-Verhältnis: Für ein ganzes „Hemd“ bekommen Sie zwei Taschenbuch-Ausgaben von Martels Mega-Erfolg „Schiffbruch mit Tiger“. Nehmen Sie die. Eins zum Selberlesen, eins zum Verschenken. Besser geht’s einfach nicht.
O.k., ich hab schon verstanden: Brigitte.de hat „Schiffbruch mit Tiger“ besser gefallen. Hat auch eine passable Inhaltsangabe zusammengebracht. Aber Yann Martels Stil als „Wahnsinns-Sprache“ zu charakterisieren, kommt eher einem Facebook-„Like“ gleich als auch nur in die Nähe dieses Stils.
Wahnsinns-Sprache
„Henrys zweiter Roman, den er wie den ersten unter Pseudonym veröffentlicht hatte, war ein Erfolg gewesen.“ – Wahnsinns-Sprache!
„Henry hatte das Gefühl, wenn er mit dem Fuß aufstampfte, würden all diese Geschöpfe in Panik die Flucht ergreifen. (…) Er fragte sich, ob er hier den Hirsch finden würde, der Sankt Julian verflucht hatte. Oder vielleicht die Bären, die er erdolcht, die Stiere, die er mit der Axt erschlagen hatte.“ – Wahnsinns-Sprache!!
„Das Hemd ist ein Land wie jedes andere, Nachbar von, größer als, kleiner als (…) Namen sind willkürlich. Wir teilen die Erde auf, geben den Landstrichen Namen, zeichnen Karten, dann richten wir uns ein. (…) Das Hemd ist das Land, in dem wir alle leben …“ – Wahnsinns-Sprache!!!
Absurde Geschichten
Und ja: für ein ganzes „Hemd“ bekommen Sie tatsächlich zwei Taschenbuch-Ausgaben von Martels Mega-„Schiffbruch mit Tiger“. Aber was genau will uns Brigitte.de damit sagen? Ich vermutete schon: Man will uns sagen, wir sollen die Hände von „Ein Hemd des 20. Jahrhunderts“ lassen. Wohl wegen der langen Dialoge und des Brüllaffen-Schreis.
Aber das ist denn doch ein bisschen kurz gegriffen. Im „Mega-Erfolg“ beschrieb Martel die absurde Geschichte eines Schiffbrüchigen, der sich sein Rettungsboot mit einem Tiger teilen musste, im „Hemd“ beschreibt er die absurde Geschichte eines ehemals erfolgreichen Schriftstellers, der daran gescheitert ist, ein zwischen Essay und Fiktion liegendes Werk über den Holocaust zu veröffentlichen, und von einem seltsamen Tierpräparator fasziniert ist, welcher ein bizarres Theaterstück über den „Schrecken“ verfasst und Hilfe benötigt.
Ein beunruhigendes Buch
Das so genannte „Hemd“ kann – wie von Gustav Seibt in der „Süddeutschen“ – als literarische Versuchsanordnung zur Frage gelesen werden, wie man in der Fiktion über den Holocaust schreiben kann. Man dem Buch – wie Gisa Funck in der FAZ – „allegorische Überfrachtung“ vorwerfen oder sich an den vielen geistesgeschichtlichen Verweisen stoßen. Man kann aber auch – wie Gerhard Pretting auf oe1.orf.at – der Ansicht sein, dass es Martel gelungen ist, das Grauen bewegend und packend zu beschreiben.
Und man kann auch – wie ich – der Ansicht sein, ein kluges, überzeugend komponiertes, souverän geschriebenes und außerdem beunruhigendes Buch gelesen zu haben, das einen wahrscheinlich länger beschäftigen wird als die meisten anderen entrüsteten oder sachlichen Abhandlungen über den Holocaust und alles, wofür dieser steht.
Eine Art Schaufel, mit der ich mich umgrabe
„Ein Hemd des 20. Jahrhunderts“ mag seine Mängel haben, aber man kann es nur bedingt mit „Schiffbruch mit Tiger“ vergleichen. Es ist auf jeden Fall schwergewichtiger. Natürlich „muss man da nicht durch“. Aber man kann es, um es endlich einmal wieder mit Martin Walser zu sagen, als eine Art Schaufel benutzen, mit der man sich umgräbt.
Von Werner Schuster
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Yann Martel wurde 1963 in Spanien geboren. Seine Eltern sind Diplomaten. Er wuchs in Costa Rica, Frankreich, Mexiko, Alaska und Kanada auf und lebte später im Iran, in der Türkei und in Indien. Er studierte Philosophie und wohnt derzeit in Montreal.
Mehr über Yann Martel bei Wikipedia.
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