Traum oder Turner?
Man nimmt ja nicht an, dass in einer Buchhandlung Fälschungen angeboten werden wie bei einem Straßenhändler, der verdächtig günstige Uhren verkauft. – Eine Einführung in die Editionswissenschaft.
Uns, die wir in Buchhandlungen stöbern, ist es in der Regel gleichgültig, was für eine Ausgabe wir in Händen halten oder kaufen. Wahrscheinlich ist uns auch egal, ob Else Lasker-Schüler in ihrem Gedicht „Mein blaues Klavier“ geschrieben hat „Es spielen Sternenhände vier“ oder „Es spielten Sternenhände vier“ (– der Unterschied liegt im Zeitwort).
Doch das – für die meisten vielleicht kleine – Problem liegt darin, dass man nicht weiß, was Lasker-Schüler eigentlich gemeint hat (– im Erstdruck und in den handschriftlichen Versionen steht „spielten“, in der autorisierten Ausgabe allerdings „spielen“).
Wir wollen doch sicher sein
Mag sein, dass wir Lasker-Schüler gar nicht mitnehmen wollen. Aber egal, wofür wir uns nun entscheiden, wir wollen doch sicher sein, dass die AutorInnen auch geschrieben haben, was wir später dann lesen.
Das aber können wir in der Regel nicht. Nehmen wir zum Beispiel Franz Kafka, der ja seinen Freund Max Brod vor seinem Tod gebeten hatte, den Großteil seiner Handschriften zu vernichten. Nun weiß man, dass sich Brod diesem Willen widersetzt und viele von Kafkas Schriften posthum veröffentlicht hat.
Willkür, dein Name ist Brod
Allerdings hat Brod dabei – neben Eingriffen in Orthographie, Interpunktion, Absatzgliederung und Satzstellung – auch Wörter hinzugedichtet und manche falsch gelesen. Und es macht schon einen Unterschied, ob es in „Die Brücke“ heißt: „Wer war es? Ein Kind? Ein Traum? Ein Wegelagerer? Ein Selbstmörder? Ein Versucher? Ein Vernichter?“ (Brod) oder „Wer war es? Ein Kind? Ein Turner? Ein Wegelagerer? Ein Selbstmörder? Ein Versucher? Ein Vernichter?“ (original).
Kritisch
Nun gut, wegen eines Wortes wird man nicht 140 Euro mehr für ein Buch zahlen (wie man es bis 1983 musste, ehe die von Brods Willkür bereinigte, kritische Kafka-Ausgabe auch in Taschenbuch-Form erhältlich war). Aber erstens ist „Traum/Turner“ nur ein Beispiel von vielen und zweitens nimmt ja nicht an, dass in einer Buchhandlung „Fälschungen“ angeboten werden wie bei einem Straßenhändler, der verdächtig günstige Uhren verkauft.
Doch wie man schon beim Lasker-Schüler-Beispiel oben gesehen hat, ist es nicht immer leicht, dem Original auf die Spur zu kommen.
Entstehungsfragmente, Überlieferungsfragmente, …
Was heißt „nicht leicht“? – Die HerausgeberInnen eines Textes müssen erst einmal herausfinden, wo die Schriften der AutorInnen archiviert sind – und wie: Als Entstehungsfragmente, Überlieferungsfragmente, Autographen, Abschriften fremder Hand, Korrekturfahnen, Erst- und Nachdrucke etc. In der Folge müssen sämtliche Vorstudien, Entwürfe, Exzerpte, aber auch Briefe und Tagebuchnotizen gesichtet werden.
Das wird geprüft, geordnet – und verglichen. Daraus entsteht dann bei älteren Werken eine Art Stammbaum eines Textes, bei jüngeren „bloß“ eine Chronologie der Fassungen und Ausgaben.
Keine Sicherheit
Am liebsten haben HerausgeberInnen dabei autorisierte Fassungen, welche es aber nicht immer gibt. Manchmal gibt es davon auch mehrere ( – Goethe etwa hat die revidierte Fassung seines „Werther“ auf Grundlage eines Raubdruckes erstellt und dessen Fehler wurden schließlich sogar in die Ausgabe letzter Hand übernommen). Außerdem kann man sich bei Autorisierungen nicht immer sicher sein, weil Verlage zeitweise in die Texte eingreifen.
Fehlerteufel
Also müssen sich HerausgeberInnen auch die Druckgeschichte eines Textes ansehen. Schließlich bereinigen sie diesen von Druckfehlern und anderen Entstellungen. Denn auch auf dem Weg vom Manuskript zur Druckvorlage schleichen sich des öfteren Fehler ein: Abschreibfehler und Fehllesungen etwa. Und diese können dann wiederum von den AutorInnen beim Korrekturvorgang übersehen werden, was bei Neuauflagen Textrevisionen erforderlich macht. Damit nicht genug, schleichen sich bei häufig nachgedruckten Werken auch wieder Fehler ein …
Variantenreich
Die daraus entstehenden historisch-kritischen Ausgaben sind also wissenschaftliche Großprojekte, die den Laien möglichst originale Texte bescheren, den SchülerInnen und StudentInnen Erläuterungen und Kommentare und den WissenschaftlerInnen Varianten, die etwa so aussehen:
1 glauben] begreifen B; daß diese] dass die B; zauberhafte Frau] engelsgleiche Gestalt B;
begehrte] liebte B
Wer nur glaubt, was er sieht (und versteht), für den oder die empfehlen sich Faksimile-Ausgaben (mit fotomechanischer Reproduktion der Texte auf der einen und Transkription auf der anderen Seite).
Orthografie
Wer es so genau auch wieder nicht wissen will, kann zu Studienausgaben mit Informationen zur Druck-, Entstehungs- und Wirkungsgeschichte greifen. Und wer bloß ein gutes Buch kaufen mag, nimmt halt eine Leseausgabe mit – wenn‘s denn ein älteres Werk sein soll – modernisierter Orthografie.
Für die Richtigkeit der Texte kann allerdings keine Garantie übernommen werden.
Werner Schuster
Infos
Mehr über Edition und historisch-kritischen Ausgaben bei Wikipedia.
Der Artikel basiert auf dem Kapitel „Grundbegriffe der Edition“ in „Grundkurs Literaturwissenschaft“, erschienen bei Reclam. (Erhältlich bei Amazon.)
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Toll, das ist endlich mal ein informativer Eintrag, besten Dank. Muss man erstmal verarbeiten. Generell finde ich den Blog gut zu lesen.