Nachlese: Alt, aber gut #1
Liebe LeserInnen,
bei der Eselsohren-Nachlese sind diesmal Werke aus der Kategorie „Alt, aber gut“ dran:
– Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh
– Aitmatow: Abschied von Gülsary
– Walser: Halbzeit
Werner Schuster
Franz Werfel:
Die vierzig Tage des Musa Dagh
Roman
Zsolnay (1933), Fischer (1990)
Inhalt:
Der Berg Mosis südlich des Golfes von Alexandrette, der Musa Dagh, wurde im Sommer 1915, als die grausame Verfolgung der Armenier durch die Jungtürken auch die Dorfgemeinden an der syrischen Küste erreichte, für eine Gruppe von etwa 5000 zum Widerstand entschlossenen Männern und Frauen zur natürlichen Abwehrfestung. Zu Beginn des Jahres 1930 reiste Franz Werfel mit seiner Frau in diesem Gebiet und war durch die Begegnung mit Waisenkindern aus dieser Zeit derart erschüttert, daß er sofort versuchte, überlebende Erwachsene ausfindig zu machen, sie über die Ereignisse und Kämpfe zu befragen und begann, sich Notizen darüber sowie über die Landschaft zu machen: Sein Entschluß, den heroischen Widerstand der Armenier gegen die Übermacht der Türken, das Verbrechen dieses Genozids in Form eines großen Romans ins dauernde Bewußtsein der Europäer zu bringen, war spontan gefaßt. Bis zum Beginn der ersten Niederschrift im Juli 1932 – in Deutschland war zu diesem Zeitpunkt die NSDAP gerade als weitaus stärkste Partei aus der Wahl zum sechsten Reichstag hervorgegangen – unternahm Werfel intensive historische Forschungen, um seinem fiktiven Erzählen einen bis in Einzelheiten authentischen Hintergrund geben zu können.
Kurzkritik:
Während sich Werfel bei der Überarbeitung des Romans “Nicht gegen Türken polemisieren” notierte, wurden seine Bücher kurz nach erscheinen der “Vierzig Tage” von den Nationalsozialisten verbrannt, vor denen er schließlich flüchten musste.
Zur ausführlichen Besprechung: „Nicht gegen Türken polemisieren“
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Tschingis Aitmatow:
Abschied von Gülsary
Roman
Aus dem Russischen von Leo Hornung
Unionsverlag (1985; Taschenbuch 1992)
Inhalt:
Der alte Tanabai ist mit seinem Hengst Gülsary auf dem nächtlichen Heimweg in die kirgisischen Berge. Nach einem stürmischen Leben wird dies ihr letzter Gang.Beide sind müde geworden. Wie an Stationen eines Kreuzwegs brechen die Bilder der Vergangenheit hervor, die hitzigen Jahre des Aufbaus und des Weltkriegs, als die Steppe urbar gemacht und aus den Trümmern eine neue Welt aufgebaut wurde. Erinnerungen an ihre Feste, an die Reiterspiele, in denen sie gemeinsam siegten, an ihre großen und kleinen Romanzen. Und dann die Stationen des Abstiegs, der Enttäuschungen, der verständnislosen Funktionäre, die den Prachthengst an die Leine legten und seinen Reiter in die Berge schickten.
Kurzkritik:
“Gülsary war Passgänger von Geblüt, und sein herrlicher Passgang hatte ihm viele gute und bittere Tage eingebracht. Früher wäre es niemandem eingefallen, ihn anzuspannen. Das wäre einer Schändung gleichgekommen. Aber in der Not trinkt ein Pferd auch mit Zaumzeug, wie man so sagt, und in der Not durchwandert ein Mann auch in Stiefeln die Furt.”
Wer außer Tschingis Aitmatow könnte eine herzergreifende, gleichermaßen poetische wie politische Erzählung wie “Abschied von Gülsary” schreiben? Ein alter Mann nimmt Abschied von seinem Pferd, also mehr oder weniger von seinem Leben, lässt dieses Revue passieren und kritisiert en passant (im Jahr 1967!) die Zustände in der damaligen Sowjetunion – aus der Sicht eines ehemaligen kirgisischen Nomaden. All das hat Platz und Raum in diesem Stück Prosa, geschrieben mit knappen, treffenden Worten, nichts wirkt aufgesetzt, eins ergibt das andere. Für manche ist dies das Hauptwerk von Aitmatow, den man sonst vielleicht eher als Autor der Liebesgeschichte “Dshamilja” kennt.
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Martin Walser:
Halbzeit
Roman
Suhrkamp (1960)
Inhalt:
Bei seinem Erscheinen 1960 erregte der Roman ‘Halbzeit’ die Gemüter. Ungewohnt war die Vielfalt des dargestellten Geschehens: das Familienleben, der berufliche Aufstieg, die erotischen Abenteuer des alerten, ewig redenden und dabei ewig mißmutigen fünfunddreißigjährigen Vertreters Anselm Kristlein; ungewohnt war die Genauigkeit, mit der Martin Walser gesellschaftliche Haltungen und Praktiken entlarvte: den Zwang der Reklame und des Konsumstrebens, die politischen und sozialen Verfestigungen; und ungewohnt war die ganz aus dem leidenden Bewußtsein des Vertreters Kristlein entstandene erzählerische Form.
Kurzkritik:
Bis zu einem gewissen Grad ist dieser frühe Roman von Martin Walser sehr aktuell: Der Titel-Antiheld und Ich-Erzähler Anselm Kristlein muss sich beruflich ständig neu orientieren und an geänderte Gegebenheiten anpassen. Und auch das Innen- und Liebesleben dieses erfolglosen Handelsvertreters, der in die Werbebranche wechselt, dürfte sich von dem heutiger 30-jähriger nicht besonders unterscheiden: Fremdbestimmtheit, kriselnde Ehe, Seitensprünge etc.
Der Rest ist angewandte Geschichtskunde: Wie war es, in den 50er-Jahren zu leben, als sich die Nationalsozialisten wieder in die Demokratie einlebten und der Wirtschaftsaufschwung unbremsbar erschien, dass man (und das ist der Unterschied zur Gegenwart) schon sehr unwillig sein musste, um keine Arbeit zu bekommen? Interessant ist jedenfalls, dass die Konsumgesellschaft – etwa von Walser – schon in ihren Anfängen kritisch beäugt wurde.
Wer ist der Nazi?
Und (eine meiner Lieblingsszenen): Als Anselm Kristlein in eine Gesellschaft kommt und weiß, dass sich darin ein “ehemaliger” Nazi befindet, wie er zuerst aufgrund des Äußeren den Falschen als Nazi betrachtet und verabscheut, wie er schließlich den echten Nazi herausfindet und völlig verwirrt vor der Realität kapituliert. Solche mit kaum revidierbaren Vorurteilen behaftete Begegnungen sind ebenfalls kein Phänomen der Nachkriegsjahre.
Erzählt wird dies auf rund 900 Seiten mit hoher Sprachvirtuosität und ohne “traditionelle” Handlungsfolge. “Halbzeit” ist der erste Teil der Anselm-Kristlein-Trilogie: 1966 folgte “Das Einhorn”, 1973 “Der Sturz”.
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- von: Werner
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