Roiphe, Katie: Messy Lives
Für ein unaufgeräumtes Leben
Essays
Hardcover, E-Book
240 Seiten
Erschienen 2013 bei Ullstein
Aus dem von
Originalausgabe: „In Praise of Messy Lives”
Kurzkritik – Was meinen Sie? – Ausführliche Besprechung – Infos
Inhalt:
Wir meiden Weißmehlprodukte und raffinierten Zucker, gehen zum Yoga, und wenn es in der Beziehung nicht läuft, machen wir eine Paartherapie. Wir haben klare Ansichten, was richtig und was falsch ist, und danach handeln wir. Dennoch sind wir fasziniert von TV-Serien wie „Mad Men“ und dem ungesunden, in jeder Hinsicht unaufgeräumten Lebensstil, der dort zelebriert wird. Woher rührt diese Sehnsucht nach dem unaufgeräumten Leben, und was sagt sie über uns und unsere Zeit aus? (Pressetext)
Kurzkritik:
Man muss mit Roiphes Schlussfolgerungen nicht einverstanden sein, aber es tut doch gut, mal wieder innezuhalten und sich zu fragen: Was tue ich denn da? Und warum? Bin nicht auch ich wie so viele andere „derart damit beschäftigt, sämtliche Energien auf das zu lenken, was gut für uns und unsere Kinder ist, auf verantwortungsbewusste und immer auf Selbstverbesserung zielende Unternehmungen, dass sie anscheinend irgendwo auf ihren gestressten Wegen zwischen Theaterkurs und Biomarkt vergessen haben, wie das noch mal ging mit dem Carpe diem“?
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Besprechung:
Was tue ich denn da? Und warum?
Manchmal ist es von Vorteil, wenn man sich irrt. Denn eigentlich dachte ich, „Messy Lives“ wäre ein Buch für Menschen, die gerne ordentlicher wären, als sie sind. Wenn ich also gewusst hätte, dass sich Katie Roiphe nicht mit Anti-Putzwahn-Leuten beschäftigt, bei denen die Grenzen von gemütlich und Saustall verschwimmen (wie bei mir), hätte ich das Buch gar nicht gelesen. Und dann wäre mir etwas entgangen.
Und es stört mich auch nicht, dass diese Essay-Sammlung mit dem Untertitel „für ein unaufgeräumtes Leben” selbst etwas unaufgeräumt ist. Soll heißen: die Essays passen nicht alle zum Thema des Buches – oder nur gut die Hälfte. Die andere beinhaltet – gleichwohl lesenswerte – Aufsätze über SchriftstellerInnen, Auseinandersetzungen mit Facebook, Twitter u.ä. sowie das Porträt einer Domina.
Spaß am Provozieren
Aber auch das macht nichts. (Fast) alle Essays handeln von Beobachtungen, die Roiphe macht, und von ihren originellen Gedanken dazu. Roiphe provoziert gerne, nicht um des Provozierens willen, aber doch, weil sie Spaß daran hat. Folgenden Leserbrief aus der New York Times hat sie sich zur Inspiration an ihre Bürowand gepinnt:
Sie leisten nicht nur einen Beitrag zur völligen Vernichtung der literarischen Kultur, sondern auch zur Zerstörung unserer Zivilisation. Denken Sie mal darüber nach.
„Die Nackten und die Hin- und Hergerissenen“
„Um Gottes Willen, was hat Katie Roiphe denn da nur geschrieben?!“, mag man sich fragen. – Nichts, worüber man sich groß aufregen müsste, denke ich. Der Leserbrief wurde von ihrem Essay „Die Nackten und die Hin- und Hergerissenen“ inspiriert. Dieser ist in „Messy Lives“ abgedruckt und handelt von US-Autoren wie Roth, Updike, Mailer und Bellow, welche in den 1960er-Jahren in ihren Romanen dem Sex gehuldigt haben. Und davon, dass der literarische Sex von heute (z.B. bei Eggers, Kunke, Wallace, Chabon, Eugenides, Franzen) eher kindlich daherkommt, „das Unschuldige ist angesagter als das Virile, man kuschelt lieber, als dass man Sex hat“. Roiphe meint:
Verglichen mit der neuen Reinheit, der reflektierten Gelähmtheit und der selbstgefälligen Ambivalenz hat Updikes Begriff von Sex als „phantasievolle Suche“ eine gewisse verblasste Grandezza.
Perverser Reiz
Ich glaube nicht daran, dass Gedanken wie dieser unsere Zivilisation bedrohen. (Aber mir ist schon klar, dass für manche Menschen Sexszenen in Romanen genauso „pfui“ sind, wie darüber zu schreiben.)
Nun gut. Wenden wir uns dem Thema zu, deswegen ich dieses Buch gelesen habe: dem „perversen Reiz des unaufgeräumten Lebens“. In mehreren Essays geht Roiphe der Frage nach, warum unsere konservative Kultur (etwa in der TV-Serie „Mad Men“) fasziniert davon ist, „Menschen dabei zuzusehen, wie sie zu viel trinken, zu viel rauchen und mit anderen Menschen mit denen sie nicht verheiratet sind, im Bett zu landen“.
Erfahrungen
Roiphe macht einen kulturellen Wandel aus: Dass wir zu besseren, aufgeklärten Menschen werden wollen „über den Weg der Gesundheit, also über die intensive Beschäftigung mit dem, was gesund ist – und eben nicht über das, was Spaß macht oder was einem tief empfundene, angenehme Erfahrungen beschert.“
Sie fragt: „Wer hat denn heute noch Spaß im Büro? Wir verschwinden höchstens mal kurz bei Facebook, in den E-Mails, hinter Zeitungen oder um etwas einzukaufen.“ Oder: „Sind wir wirklich glücklicher oder machen wir eben einfach nur Yoga oder Pilates, kümmern uns zu sehr um die Hausaufgaben unserer Kinder und ,arbeiten‘ an unseren Beziehungen?“
Burnout und König Kind
Das hat zwar mit unaufgeräumten Wohnungen nur bedingt zu tun, sind aber meiner Meinung nach Fragen, mit denen es sich zu beschäftigen lohnt. Wenn ich zum Beispiel daran denke, dass Rauchen frühen für Freiheit gestanden ist und heute als offen verpöntes, persönliches Fehlverhalten gilt. Oder daran, dass sich meine Eltern-Generation in der Arbeit nur angestrengt, aber nicht überanstrengt hat wie wir heute. Oder dass sich Eltern heute ihren Kindern unterordnen (sie zum Beispiel mit dem Auto von einer teuer bezahlten Freizeit-Beschäftigung zur anderen karren, während ich einfach mit anderen Kindern spielen gegangen bin).
Man muss mit Roiphes Schlussfolgerungen nicht einverstanden sein, aber es tut doch gut, mal wieder innezuhalten und sich zu fragen: Was tue ich denn da? Und warum? Bin nicht auch ich wie so viele andere „derart damit beschäftigt, sämtliche Energien auf das zu lenken, was gut für uns und unsere Kinder ist, auf verantwortungsbewusste und immer auf Selbstverbesserung zielende Unternehmungen, dass sie anscheinend irgendwo auf ihren gestressten Wegen zwischen Theaterkurs und Biomarkt vergessen haben, wie das noch mal ging mit dem Carpe diem“?
Von Werner Schuster
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Infos:
Katie Roiphe, geboren 1968 in New York, studierte Literaturwissenschaft in Harvard und Princeton. Sie lehrt Journalismus an der New York University. Sie hat bereits einen Roman und mehrere Sachbücher veröffentlicht. Beiträge von ihr erschienen u. a.in New York Times, Washington Post, Newsweek, Esquire und Vogue. Katie Roiphe hat zwei Kinder, die sie allein erzieht.
Mehr über Katie Roiphe bei Wikipedia.
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