28/03/2012von 768 Views – 0 Kommentare

Merrill Block, Stefan: Aufziehendes Gewitter

KurzkritikIhre MeinungAusführliche BesprechungInfos

Buchcover
  • Roman
  • Hardcover
  • 348 Seiten
  • Erschienen 2012 bei Piper
  • Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
  • Originalausgabe: „A Storm at the Door”

Inhalt:

Boston, 1962: Frederick wacht mit einem schlimmen Kater im Irrenhaus auf. Nur langsam fällt ihm wieder ein, was passiert ist … Er wurde verhaftet, weil er ältere Damen auf offener Strasse mit seinem nackten Hinterteil erschreckt hat. Um ihm einen Prozess zu ersparen und weil seine Frau Katharine seine manischen Schübe einfach nicht mehr ertragen kann, steckt man ihn ins Mayflower Home, eine exklusive Anstalt, wo die High Society sich im Falle eines Falles kurieren lässt. Frederick glaubt eigentlich nicht, dass er krank ist – aber als er wieder gehen will, muss er feststellen, dass er darüber nicht mehr entscheiden kann. Und Katharine antwortet bald noch nicht einmal mehr auf seine Briefe. Brooklyn, 2010. Fast fünfzig Jahre später beschließt Stefan Merrill Block, seinem totgeschwiegenen Großvater eine Stimme zu geben.

Kurzkritik:

Dieses Buch ist für mich im positiven Sinn rätselhaft: wie ist es Merrill Block nur gelungen, seine persönliche Familiengeschichte wie einen Roman zu erzählen? Obwohl er immer wieder „ich“, „meine Mutter“ usw. schreibt, hatte ich nie den Eindruck, Erfahrungsliteratur zu lesen. Und Merrill Block müsste im Nachwort nicht eigens darauf hinweisen, dass „Aufziehendes Gewitter“ ein Roman sei, „zu dem mich die Geschichte meiner Großeltern inspiriert hat. Er schildert nicht das tatsächliche Leben meiner Großeltern“ – es ist völlig klar, dass wir es hier mit Erfindungsliteratur zu tun haben.

Mit Literatur, anhand derer wir uns zum Beispiel fragen könnten, wo die Grenze von „normal“ und „verrückt“ verläuft – und was wir von jenen Menschen wissen, die uns nahe sind oder waren.

Werner gibt  ★★★★½  (4,5 von 5 Eselsohren)

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Besprechung:

Noch exzentrisch oder schon verrückt?

Dieses Buch ist für mich im positiven Sinn rätselhaft: wie ist es Merrill Block nur gelungen, seine persönliche Familiengeschichte wie einen Roman zu erzählen? Obwohl er immer wieder „ich“, „meine Mutter“ usw. schreibt, hatte ich nie den Eindruck, Erfahrungsliteratur zu lesen. Und Merrill Block müsste im Nachwort nicht eigens darauf hinweisen, dass „Aufziehendes Gewitter“ ein Roman sei, „zu dem mich die Geschichte meiner Großeltern inspiriert hat. Er schildert nicht das tatsächliche Leben meiner Großeltern“ – es ist völlig klar, dass wir es hier mit Erfindungsliteratur zu tun haben.

Merrill Block beschreibt also das Leben seiner Großeltern, wie es hätte sein können. Sein Großvater Frederick, ein lebenslustiger, intelligenter und dem Alkohol nicht abgeneigter Exzentriker, hat sich im Jahre 1962 eines Nachts auf einem Highway entblößt und sich in eine Anstalt einweisen lassen, um einer gesetzlichen Strafe zu entgehen.

Fredericks Pech

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Er dachte, er könnte die Anstalt jederzeit wieder verlassen, doch bedurfte er dazu des Einverständnisses des Direktors. Fredericks Pech war (laut Merrill Block), dass er den Direktor in einer heiklen Situation erwischte, worauf ihn dieser mit einer Sonderbehandlung (Elektroschocks u.ä.) mundtot zu machen versuchte.

Sein Glück war, dass seine Frau Katharine just zu jenem Zeitpunkt um seine Entlassung zu kämpfen begann, als der Direktor beim Anstaltsvorstand wegen seiner erfolglosen Methoden in Misskredit geraten war.

Unsicherheiten

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Dies ist das grobe Handlungsgerüst, das dem Roman nicht gerecht werden kann. Das hat mit den von Merrill Block wunderbar ambivalent geschaffenen Charakteren zu tun und mit der Frage, ob Frederick als verrückt angesehen werden sollte und wie sehr. War er zu Recht in einer Anstalt eingesperrt oder nicht?

Frederick dachte nicht, dass er verrückt „genug“ war, auch wenn ihm manchmal Zweifel kamen. Katharine war sich nicht sicher, ob sie dem Urteil der Psychologen vertrauen konnte. Auch die Psychologen waren sich nicht einig.

Was ist „normal“ und was „verrückt“?

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Man rätselt bei der Lektüre also nicht, was an diesem Roman erfunden und was „wahr“ sein kann, sondern über die Grenze von „normal“ und „verrückt“.

Das gemahnt mich an meine Spaziergänge auf der Wiener Baumgartner Höhe, einer offenen psychiatrischen Anstalt, d.h. nur die schweren Fälle sind dort eingesperrt, die anderen können sich am Gelände frei bewegen. Bei den Menschen, denen ich dort begegne, bin ich mir nie sicher, ob ich es mit BesucherInnen, PatientInnen oder auch ÄrztInnen zu tun habe.

Erklärungen, die wir uns ausdenken, aber nie beweisen können

Auf einer anderen Ebene kann man sich anhand dieses Romans auch die Frage stellen, was man von jenen Menschen weiß, die uns nahe sind oder waren. Über Frederick und Katharine schreibt Merrill Block: „Und nach und nach werden sie für uns ganz verschwinden, werden sich in den möglichen Erklärungen auflösen, die wir uns ausdenken, aber nie beweisen können.“

Und wozu inspiriert Sie dieser Roman, den ich Ihnen sehr empfehle?

Von Werner Schuster

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Mehr Infos:

Stefan Merrill Block, geboren 1982, aufgewachsen in Texas, lebt heute in Brooklyn. Er studierte an der Washington University in Saint Louis/Missouri. Schon sein erstes Buch „Wie ich mich einmal in alles verliebte“, war national und international ein Erfolg – die Übersetzungsrechte wurden in über 20 Sprachen verkauft. „Aufziehendes Gewitter“ ist sein zweiter Roman.

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