16/12/2012von 475 Views – 0 Kommentare

„Belleville Epoque, Première partie“ von Isabella Feimer

Liebe LeserInnen,

folgenden Text hat Isabella Feimer exklusiv für die Eselsohren geschrieben.

Am 2. Jänner 2013 erscheint ihr Roman „Der afghanische Koch“ im Septime Verlag.


Paris, lassen Sie sich sagen, ist nicht die Stadt der Liebe, nicht mehr, seitdem sie, wie alle behaupten, so unromantisch geworden ist, mit den Einkaufszentren und Geschäftslokalen, die die kleinen Cafés verdrängten, mit der Schnellstraße direkt an der Seine, wo sich einst die Liebenden trafen.
Paris ist die Stadt derer, die schauen und geschaut werden möchten. Man schaut sich an, man sucht sich gegenseitig in die geknickte französische Seele zu schauen, schaut ins Feuer, wenn es in den Vorstädten und Randbezirken brennt, schaut auf die Teller anderer, wenn sie gefüllter sind als der eigene.

Jeden Morgen saß sie vor dem Café und schrieb. Mit einer Füllfeder, die sie als vertrautes Werkzeug zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, kratze sie Zeile für Zeile auf die leeren Seiten ihres Notizheftes.
Anfänglich war ich ihr stiller Beobachter. Ich stand an der Straßenecke gegenüber und rauchte, und rasch wurden aus zwei Zigaretten, die ich mir hintereinander ansteckte, mehr, und jeden Tag verweilte ich länger. Ich bemühte mich, unentdeckt zu bleiben und all meinen verkrampften Bewegungen eine Natürlichkeit zu geben, so ungeschickt gewollt, dass ich zwangsläufig ertappt werden musste.
Aber nicht sie war es, die mich ansprach, das sollte noch dauern, sie blieb in ihre Notizen vertieft, gedankenverloren, egal wie ausgedehnt, wie manisch mein Beobachten geworden war.
Maurice sprach mich an, er, den ich über lange Jahre kannte, und dessen Gegenwart ich während all dieser Tage verdrängt hatte. Ob ich Wurzeln schlagen will, fragte er, ob ich mich nicht mehr traue, dann lachte er, und ich lachte mit, weil ich nicht mehr schauen durfte, und er klopfte mir auf die Schulter, und Asche fiel von meiner Zigarette ab, komm, sagte er, dein nächstes Glas geht auf mich.

Ich stand an die Theke gelehnt, ein Glas Wein vor mir, Maurice hantierte an der Kaffeemaschine, und ich hatte ihm den Rücken zugewandt. Er redete, aber nicht mit mir, mir gegenüber ein älterer Mann in gebückter Haltung, auch er nippte an einem Glas Rotwein, unter seinen Fingernägeln schwarze Rückstände. Maurice entlockte ihm einen ordinären Witz und der Mann lachte, ohne seine Mundwinkel zu verziehen.
Meine Fingerspitzen klopften auf das spröde Holz des Tresens, im Rhythmus einer Melodie, die ich mir in Gedanken erfand. Es fiel mir schwer, sie anzusehen, obwohl es nur ihr Rücken war, den sie mir zeigte. Ihr rötlich-blondes Haar legte sich in ungekämmten Wellen über ihre Schulter. Ich atmete schneller als zuvor und wieder hatte ich Lust auf eine Zigarette. Sie, vor dem Café, legte die Füllfeder auf den Notizblock und holte aus ihrer Handtasche ein Päckchen Zigaretten.
Ich hätte zu ihr gehen können, als sie nach dem Feuerzeug suchte, hätte ihr meines reichen können, bereits entflammt, aber lassen Sie sich sagen, Männer wie ich sind nicht immer das, was sie scheinen, und statt einen ersten Schritt zu tun, tat ich nichts, trank den Wein aus und verließ das Café. Als ich an ihr vorbeiging, hielt ich kurz inne. Ich roch ihr Parfum und hörte das Kratzen der Feder auf dem Papier.

Sie ist nicht von hier, dachte ich, und kaum war dieser Satz in meinen Gedanken zu Ende gesprochen, legte sich ein beklemmendes Gefühl auf meine Brust.
Nach Paris, lassen Sie sich sagen, kommen viele Menschen, ohne uns Menschen, die wir hier leben müssen, zu verstehen.

In der Dunkelheit lag ich wach, abgedeckt auf meiner Matratze. Zigarettenrauch stand in meinem Zimmer, das kein Fenster hatte, und die Tür ließ ich diese Nacht zu. Normalerweise machte es mir nichts aus, Tracy hämmern zu hören. Die Nacht war ihr Tag, weil es so sein musste. Sie arbeitete mit einem kleinen Hammer an einem Anhänger, hatte sie gesagt, als ich mit ihr einen Joint rauchte, tonight the necklace, sagte sie, tomorrow, tomorrow… maybe I´m dead by tomorrow, dann nahm sie mir den Joint aus der Hand und inhalierte. Ich kauerte auf dem Ledersofa, sie hielt sich aufrecht auf dem Holzstuhl, you´re not going out?, fragte sie, und ich lächelte.
Auch jetzt, als ich an die Zimmerdecke starrte, hörte ich Tracy, aber sie hämmerte nicht, sie stöhnte, und normalerweise machte es mir auch nichts aus, sie stöhnen zu hören. Ist ein Job wie jeder andere, und in Paris, lassen Sie sich sagen, sind die Mieten hoch.

Männer wie ich, dachte ich, guys like you, hörte ich Tracy sagen, selbst ihr Lachen dehnte sich wie ein Gummiseil, und sie schüttelte den Kopf und erzählte mir, dass sie viele Männer hatte, die schwiegen, während sie sich langsam in den Laken bewegte und auszog vor der Kamera, they know, sagte sie, I start with my shoes… I slowly take them off… very slowly… and sometimes that´s all I´m doing, sometimes that´s more than enough.

Ich schlug mir mit der Faust in den Bauch, ich wollte schlafen, und sobald ich meine Augen schloss, fühlte ich mich wacher, und das Leben fühlte sich realer an. Ich, an ihrer Seite, würde ihre Hand auf die meine legen, und ihre Feder würde mir ihren Namen in meine Lebenslinie ritzen. Ich stellte mir ihr Gesicht vor, wenn sie lachte. Ich hatte sie noch nicht lachend gesehen, noch nicht weinend, und kannte ihre Stimme nicht. Erneut schlug ich mir mit der Faust in den Bauch, diesmal sanfter.
Ob mich Maurice morgen wieder zu sich ins Café zitieren, ob sie wohl da sein würde?

An manchen Tagen arbeitete ich, an den meisten anderen Tagen zog ich durch das Viertel auf der Suche nach einem schnellen Job, auf der Suche nach Bekannten, die mich auf Essen einladen konnten, auf einen Joint, auf Bier, auf ein Glas Wein. Anderen Bekannten musste ich aus dem Weg gehen, weil ich ihnen entweder Geld oder einen Gefallen schuldete. Samstags half ich im Gemüsemarkt aus. Der Laden war gleich nebenan, und es tat mir leid, dass sie mich nicht öfter brauchten. Ich roch Gemüse gern, selbst dann noch, wenn es am Ende des Tages nicht mehr frisch war und sich die ersten Anzeichen von Vergänglichkeit ins helle Grün schlichen. Der Sohn des Ladenbesitzers steckte mir regelmäßig Gras zu und manchmal bat er mich, den einen oder anderen kleinen Deal zu machen. Er hätte es auch selbst tun können, aber wenn ich in Geldnöten war, glaubte er, mir helfen zu müssen, eine Familie, sagte er, du und ich und der Rest dieses Viertels.

Lassen Sie sich sagen, dass ich mein Leben mochte, dass ich gerne im Gras lag, wenn der Sommer in der Stadt am unerträglichsten war, dass ich zufrieden war, wenn ich Regentropfen zählen konnte und auf Schnee wartete. So wie ich darauf wartete, sie jeden Morgen vor dem Café zu sehen, zu beobachten, wie sie aufblickte von ihren Notizen, um in der Ferne nach Gedanken zu suchen, zu sehen, wie sie mit der Feder auf die Tischplatte klopfte, wenn sie in einem Satz stockte, und sich dabei ihr Mund verschob.

An dem Tag, der mir unsere erste Begegnung schenken sollte, arbeitete ich. Früh musste ich aus dem Haus, so früh, dass ich wusste, das Café hatte noch nicht geöffnet. Tracy arbeitete hinter dem Moltonstoff, der ihren Raum von dem Gemeinschaftsraum trennte, mit belegter Stimme unterhielt sie sich mit der Bildschirmkamera, die Bettwäsche raschelte.
Es machte mich wütend, dass ich sie nicht sehen würde, heute morgen nicht, vielleicht nie mehr wieder, falls sie abreisen sollte. Nichts wusste ich von ihr, wieder diese Leere in mir, ein pochendes schwarzes Loch, das diesen Gedanken begleitete.
Die Arbeit war einfach, ich half, ein Motorrad zu reparieren, mechanisch vollzog ich die Handgriffe und verhielt mich still, während mein Teilzeitarbeitgeber unentwegt über Land, Leute und Politik herzog und darauf bestand, dass ein neuer Präsident auch erst einmal den Dreck des alten beseitigen müsste. Nachmittags war die Arbeit getan, und obwohl ich müde war, ich gerne einen Joint geraucht hätte, um zeitig in die Nacht zu entschlummern, zog es mich in das Café. Nicht, dass ich dachte, sie dort anzutreffen, nichts dergleichen, dennoch wollte ich ihr nah sein und an dem Tisch sitzen, den sie jeden Morgen für sich beanspruchte.

Es war ein heißer Spätsommertag, aber die Tischplatte war kühl, und meine schmutzigen Hände ruhten auf ihr, zwischen ihnen ein Glas Rotwein. Immer noch war diese Leere in mir, die mich an meine ersten Jahre in der Stadt erinnerte, als Paris noch den Liebenden gehörte, wie es damals hieß. In Wahrheit gehörte sie denen, die überleben mussten, die Eiffeltürme in Miniaturausgabe oder in Form von Schlüsselanhängern verkauften oder illegal Markenimitate mit sich trugen und an Straßenecken auf Tischtüchern präsentierten.
Ich roch sie, bevor ich sie sah, spürte sie, bevor ich sie roch, erahnte ihre Gegenwart, lange bevor sie an dem Tisch neben mir Platz nahm. Ich hörte ihre Stimme, die einen Kaffee orderte. Ich sah zu ihr und lächelte. Sie sah mich nicht, kramte in ihrer Tasche, und ich hoffte, nach ihrem Notizbuch.

Ob ich Feuer hätte, fragte sie, und ich nickte, mein Lächeln war erstarrt, ob sie hier in Belleville lebe, fragte ich, während ich ihr Feuer gab, und ihre Finger meine Hand streiften, die ganz ölig war, wie ich feststellen musste, und ich schämte mich. Ja, sagte sie, aber nur für kurze Zeit, und bedankte sich für das Feuer. Sie schrieb nicht, hatte ihr Notizbuch in ihrer Tasche gelassen und beobachtete die länger werdenden Schatten auf dem Gehweg. Sie und ich schauten den Schatten nach, und obwohl wir uns nicht mehr ansahen, nicht einmal dann, als sie zahlte und ging, wussten wir, dass wir einander beobachtet hatten.

© Isabella Feimer


Über die Autorin
Porträt Isabella Feimer

Isabella Feimer - Foto: Michael Winkelmann

Isabella Feimer, beboren 1976 in Mödling, lebt in Wien. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaften an der Universität Wien. Besuch der Leondinger Akademie für Literatur.

Staatsstipendium für Literatur des bm:ukk 2009. Teilnehmerin des Mentoringprojekts des bm:ukk 2011. Reisestipendium für Literatur des bm:ukk 2011.

2012: Nominierung für den Ingeborg Bachmannpreis, sowie, mit einem Ausschnitt aus ihrem Debütroman “Der afghanische Koch”, 2. Platz beim Literaturwettbewerb der Akademie Graz.

Freie Theaterregietätigkeit. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften.

Am 2. Jänner 2013 erscheint ihr Roman „Der afghanische Koch“ im Septime Verlag.

Eine Liebe im Wien der Gegenwart.

Er, im Afghanistan – sie, im Österreich der 80er Jahre groß geworden, seine Kindheit und Jugend geprägt durch militärische und religiöse Konflikte, ihre durch den behüteten Hintergrund eines durchschnittlichen westeuropäischen Bildungsbürgertums.

Kriegsschauplätze und Fluchtszenarien, Gewalt und Tod bestimmen sein Bewusstsein. Innerlich zerrissen, geplagt von Erinnerungen, Heimweh und Träumen, ist er getrieben von der Sehnsucht, seinem Leben eine Richtung zu geben. Durch den Mangel an ähnlichen Erlebnissen fast von Schuldgefühlen erfüllt, versucht sie, in seine Welt einzutauchen, indem sie seine Geschichte aufschreibt.
Blitzlichtartige Reflexionen über ihren Großvater, der als traumatisierter Kriegsveteran aus Stalingrad heimkehrte, spannen den Bogen zwischen den unterschiedlichen Erfahrungswelten. Behutsam und zärtlich nimmt sie sich seiner Erinnerungen an, fügt die Versatzstücke ihrer beider Leben in einem Mosaik zusammen in der Hoffnung, daraus ein gemeinsames großes Ganzes schaffen zu können.
Ist Liebe ausreichend, wenn die Grenzen zwischen Nähe und Distanz, zwischen Haltgeben und Aneinanderklammern fließend sind? Gibt es eine gemeinsame Zukunft?

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