LeBlanc, Adrian Nicole: Zufallsfamilie
Kurzkritik – Was meinen Sie? – Ausführliche Besprechung – Infos
Liebe, Drogen, Gewalt und Jugend in der Bronx
Tatsachenroman
Aus dem Amerikanischen von Richard Obermayr
Hardcover: Deuticke, 2008
(“Random Family”, Scribner, 2003)
Inhalt:
Jessica, ein wildes Mädchen, zieht Probleme magisch an. Ihr Freund, Drogendealer Boy George, sitzt lebenslänglich im Gefängnis, wo bald auch Jessica landet, weil sie zu viel weiß und zu wenig sagen will. Ihr Bruder Cesar sitzt wegen eines Gewaltverbrechens, seine Freundin Coco, selbst noch fast ein Kind, lebt mit ihren Töchtern schlecht und recht von der Sozialhilfe. Doch zu Weihnachten leiht sie sich Geld zu Wucherzinsen, um Geschenke für ihre Familie zu kaufen … Adrian Nicole LeBlanc hat zehn Jahre lang das Leben von Jugendlichen in der Bronx in New York begleitet und ihr Vertrauen gewonnen. Sie erzählt von Mord, Vergewaltigung und ungewollter Schwangerschaft, vom trostlosen ewigen Kampf um Geld und Leben, aber auch von Hoffnung, Sehnsucht, Liebe und Freundschaft. (Pressetext)
Kurzkritik:
Nach dem Finale im Gefängnis-Besuchsraum mit Coco, ihrem Ex-Freund Caesar und ihrer beider Kinder tat es mir leid, vom Leben der Zufallsfamilien ab sofort ausgeschlossen zu sein. Und die Begriffe “Bronx” und “Ghetto” sind bei mir ab sofort mit konkreten Menschen verbunden, über die mir jemand sehr anschaulich erzählt hat.
Werner gibt (4 von 5 Eselsohren)
Und hier können Sie das Buch bestellen:
– in einer Buchhandlung in Ihrer Nähe
– bei Amazon
Der andere Boy George und seine Freunde
David Sedaris’ Statement “Wenn ich nur ein einziges Buch über das Leben in Amerika empfehlen dürfte, würde es dieses sein” halte ich für stark übertrieben – LeBlancs “Zufallsfamilie” braucht solches Marktgeschreie nicht. Außerdem ist es nicht unbedingt leichte Kost: Auf knapp 600 Seiten wird der Alltag meist jugendlicher Ghetto-BewohnerInnen akribisch beschrieben, und auch wenn es zeitweise dramatisch zugeht, ist das Buch kein spannungsreiches.
Auf den Straßen geht es gewalttätig zu, viele Menschen nehmen und/oder handeln mit Drogen, sie sind promiskuitiv, haben etliche Kinder von unterschiedlichen PartnerInnen, leben meist in Familienverbänden in zu kleinen und desolaten Wohungen, kaum jemand kann die Chancen nutzen, die eine Ausbildung bringen würde oder bringt, einige wandern immer wieder für kurz oder auch für lange Zeit ins Gefängnis.
Den Fakten Leben eingehaucht
Das sind die abstrakten Fakten, die man ohne dieses Buch wohl auch wüsste. Doch LeBlanc gelingt es, dieses Fakten Leben einzuhauchen, was mitunter etwas langatmig wird, wenn man über Cocos Tagesabläufe mit irgendwann einmal vier Kindern in wechselnden Wohnungen mit oder ohne (wechselnde) Partner en detail liest. Oder über Jessicas kurze, von Alltagssorgen unbeschwerte Zeit mit dem vielen Geld des Drogenhändlers Boy George, was in die Schilderung der langjährigen Haftstrafen beider mündet.
Auch wenn ich manchmal versucht war, kleinere bis größere Passagen zu überfliegen oder -blättern, so wollte ich schlussendlich doch nichts von diesem romanhaften Tatsachenbericht versäumen:
“Sie muss endlich loslassen lernen.”
In Foxys Wohnung stritten sich Foxy und Coco auf die gleiche Tour wie früher, als Coco noch ein Teenager war. Coco beschwerte sich bitterlich über Hernan. “Sie gönnt mir niemanden”, sagte Foxy. “Sie muss endlich loslassen lernen.” Während eines Streits warf Foxy mit einem Wasserglas nach Coco; nach einem anderen Streit nahm Foxy eine Extradosis von den ihr verschriebenen Pillen, um sich zu betäuben. Um die Dinge etwas abkühlen zu lassen, fuhr Coco mit Mercedes und Nautica upstate, um Milagros einen Besuch abzustatten. Als Coco wieder zurück in die Bronx kehrte, verkündete sie, sie erwäge ernsthaft nach Troy zu ziehen. Die kleine Stadt war langweilig, aber es war schön dort und ruhig, und die Kinder hätten eine Menge Spielgelegenheiten.
Nach dem Finale im Gefängnis-Besuchsraum mit Coco, ihrem Ex-Freund Caesar und ihrer beider Kinder tat es mir jedenfalls leid, vom Leben der Zufallsfamilien ab sofort ausgeschlossen zu sein. Und die Begriffe “Bronx” und “Ghetto” sind bei mir ab sofort mit konkreten Menschen verbunden, über die mir jemand sehr anschaulich erzählt hat.
Von Werner Schuster
– in einer Buchhandlung in Ihrer Nähe
– bei Amazon
Über Adrian Nicole LeBlanc bei Wikipedia (englisch).
Mehr bei den Eselsohren
- von: Werner
- was: Alles andere – AutorInnen L – Biografien, Erinnerungen – Rezensionen – Romane & Erzählungen
- wer/wie/wo: anspruchsvoll – Deuticke – empfohlen – Hardcover – N-Amerika (Schauplatz)
- Rezensionen (alphabetisch): Romane von A–Z – Biografien & Erinnerungen von A–Z –
Druckversion